Das Wasserstraßenschifffahrt-Neubauamt Heidelberg plant den Ersatz-Neubau einiger Lahnwehre
– hierzu gehört auch das Wehr Hollerich, indem sich der Lebensraum der streng geschützten
Würfelnatter befindet.
Geplant ist es die Würfelnatter in ein neues Habitat umzusiedeln, um dort die Baumaßnahmen
durchführen zu können. Aus diesem Grund haben sich anerkannte Naturschutzverbände zusammengeschlossen,
um dieser Maßnahme entgegenzutreten.

Wir von den Naturschutzverbänden
(IG Lahn, Verband Hessischer Fischer e.V.,
NABU Rhein-Lahn-Kreis und Nabu Vertretung „Living Lahn“, Nabu Landesverband
Rheinland- Pfalz,
Landesfischereiverband Rheinland-Pfalz, BUND Vertretung „Living Lahn“,
BUND Rhein- Lahn-Kreis, BUND Landesverband Rlp) sowie BAFV Lahn/Westerwald
bitten um die Beantwortung der folgenden Fragen

1. Können Sie uns bestätigen, dass Baumaßnahmen während der Winterruhe im
Bereich des Wehres Hollerich an der Lahn, wie sie vor kurzer Zeit stattgefunden
haben (Probebohrungen etc.), nach § 44 BNatschG und Artikel 12 Anhang 4 der
Habitat Richtlinie zum Schutz der Würfelnatter strengstens verboten sind

2. Ist es nach Artikel 12 Anhang 4 der Habitat Richtlinie und §44 BNatschG
möglich, dass solche Arbeiten unter strengen Auflagen ihrer Behörde zugelassen
wurden oder werden? (Vergl. EuGh C- 473/19, C-474/19)

3. In einer Studie von Frau Lenz (2006) wird von Umsiedlung der Würfelnatter
nach Friedrichsegen berichtet. Können Sie uns mitteilen, ob Umsiedlungsmaßnahmen
der Würfelnatter nach Friedrichssegen zulässig waren und wenn ja, auf welcher
gesetzlichen Grundlage?

4. Wenn Frage 3 mit „nein“ zu beantworten ist, wer hat die Umsiedlungsmaßnahmen
veranlasst?

5. Aufgrund welcher gesetzlichen Grundlage wollen Sie die Würfelnatter, wie in
der Presse berichtet wurde, nach Friedrichsegen umsiedeln?

6. Aufgrund welcher gesetzlichen Grundlage halten Sie zukünftige Maßnahmen
(Umsiedlungsmaßnahmen, Neubau des Wehres) unter Berücksichtigung des
Schutzstatus der Würfelnatter für möglich?

7. Wir haben mitgeteilt bekommen, dass vor einigen Jahren beim Verfugen von
einer Mauer an der Elisenhütte, eine große Menge der Würfelnattern in ihren
Verstecken eingemauert wurden.

Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um noch einige Tiere zu retten und welche
Konsequenzen hatte das für die verantwortlichen Personen und wurde das ganze
Ereignis lückenlos aufgeklärt. (Genehmigungen zum Betreten des Habitats,
Arbeiten und Störungen des Habitats sowie Verletzungen oder Tötungen der
Würfelnattern)?

Mit freundlichen Grüßen

 

Die SGD Nord hat auf dieses Schreiben reagiert und rechtfertigt die Umsiedlungsmaßnahmen
durch den Passus „Gefahr in Verzug“ (periculum in mora).
Daraufhin hat der BUND bei der IDUR nachgefragt, ob dies möglich sei – das wurde verneint
mit der Prämisse den Passus „Gefahr in Verzug“ gibt es im Artenschutz nicht.
Wir werden an dieser Stelle weiter informieren.

 


Argumentation Würfelnatter:

Anhang IV Art streng geschützt
Artikel 12 FFH-RL

(1) Die Mitgliedstaaten treffen
die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die
in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen
Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses

verbietet:

 

a) alle absichtlichen Formen
des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren
dieser Arten;

 

b) jede absichtliche Störung
dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-,
Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

 

c) jede absichtliche
Zerstörung
oder Entnahme von Eiern aus der Natur;

 

d) jede Beschädigung
oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.

 

Das BNatSchG stimmt nicht mit dem
übergeordneten Europarecht überein
.

BNatSchG § 19 Schäden an bestimmten Arten und
natürlichen Lebensräumen sind zulässig, wenn nach § 15 genehmigt, setzt der EuGH
außer Kraft.

Siehe IDUR Schnellbrief Nr. 229 12.21

In der Literatur wird aus dieser Rechtsprechung zu
Recht geschlossen, dass § 44 Abs. 1 Nr. 2

BNatSchG mit Art. 12 Abs. 1 Buchstabe b) FFH-RL
nicht in Einklang steh
t. Die Regelung ist weder mit dem Wortlaut, dem Sinn
und Zweck noch mit der Regelungssystematik vereinbar. Es wird darauf
hingewiesen, dass der Störungstatbestand bei anderer Auslegung praktisch
leerlaufen würde, da kaum Handlungen vorstellbar seien, die eine gesamte Tierart
im Sinne der Gesamtheit der ihr zugehörenden Individuen stören könnte
(Gellermann/Schumacher, NuR 2021, 182 (184)).

Die Linie des EuGH ist klar:

Individuenbezug auf der Ebene der
Prüfung der Verbotstatbestände,

EuGH Rechtssachen C-473/19 und C-474/19

Rechtssache C-477/19 Erweiterter Schutzstatus:

Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG
ist dahin auszulegen, dass unter dem Begriff „Ruhestätten“ im Sinne
dieser Bestimmung auch Ruhestätten zu verstehen sind, die nicht mehr von einer
der in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie genannten geschützten
Tierarten, beansprucht werden, sofern eine hinreichend hohe
Wahrscheinlichkeit besteht,
dass diese Art an diese Ruhestätten
zurückkehrt.

Populationsbezug im Rahmen der
Prüfung der Ausnahme.

Ausnahmetatbestände gemäß FFH-RL Art. 6 4. oder §
15 BNatSchG kommen hier nicht infrage.

Rechtssache C 411/17

Art. 6 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie ist
dahin auszulegen, dass, wenn das geschützte Gebiet, das durch ein Projekt
beeinträchtigt werden könnte, einen prioritären natürlichen

Lebensraumtyp oder eine prioritäre Art
(Würfelnatter)
nur die Notwendigkeit der Abwendung einer tatsachlichen
und schwerwiegenden Gefahr, dass die Stromversorgung des betreffenden
Mitgliedstaats unterbrochen wird.

Eine Ausnahme von den Verbotstatbeständen ist
somit undenkbar! Die Aktivitäten würden auch in den Bereich der erneuerten
Strafrechtsrichtlinie 2008/99/EG fallen.

 

 

 

 

 

 

3.10
Würfelnatter (Natrix tessellata)


Quelle: Gefährdungseinstufung RL V Wissenschaftlicher Name Kriterien Risiko RL
09 Kat.änd. Na Arealr. Deutscher Name SuB 1 (!) Natrix tessellata (Laurenti,
1768) Würfelnatter I

Die wenigen
deutschen Vorkommen der Würfelnatter sind auf naturnahe Abschnitte klimatisch
begünstigter Flusstäler beschränkt. Autochthone Vorkommen bestehen an Mosel,
Nahe und Lahn, wobei an der Nahe etwa 20 Flusskilometer abschnittweise besiedelt
sind. Die beiden anderen Bestände erstrecken sich über wenige Flusskilometer.

Nach einer 1999/2000 durchgeführten Wiederansiedlung an der Elbe bei Meißen hat
sich dort eine kleine, sich jährlich reproduzierende Population etabliert.
An der Ahr im Norden von Rheinland-Pfalz wurden 2010/2011 illegal Würfelnattern
angesiedelt, die aus der Umgebung des westungarischen Balaton stammten. Dieses
Vorkommen konnte sich dort jedoch nicht dauerhaft etablieren. Die
TK25-Q-Rasterfrequenz (Zeitraum 2000 – 2018) der autochthonen Vorkommen beträgt
0,19 % und liegt im unteren Bereich der Kriterienklasse „sehr selten“.

Bei der Beurteilung des langfristigen Bestandstrends sind besonders die
Auswirkungen des Ausbaus der Flüsse und der Flusstäler
zu Hauptverkehrsachsen zu betrachten. Dies
führte zur Zerschneidung und Zerstörung von Lebensräumen. Gruschwitz (1985 b)
zeigte im Vergleich historischer Daten mit der aktuellen Verbreitung bereits
1985 einen gravierenden Rückgang um ca. 85 % auf. Berücksichtigt man nicht die
Fundorte, sondern die besiedelten Flussabschnitte, so sind die Arealverluste
noch deutlich höher einzuschätzen. Langfristig ist deshalb ein sehr starker
Rückgang anzunehmen. Bedingt durch die erforderliche Stützung aller Vorkommen
durch dauerhafte Naturschutzmaßnahmen und mehrfache kleinflächige Eingriffe mit
bislang ungewissen Folgen sind die Bestände an Mosel und Nahe mehr oder weniger
stabil,
an der Lahn
jedoch deutlich abnehmend
.
Der Wiederansiedlungsversuch in Meißen an der Elbe verläuft trotz mehrerer u. a.
hochwasserbedingter Rückschläge aktuell vielversprechend (u. a. Strasser &
Peters 2014).
Im Überblick ist deutschlandweit kurzfristig eine mäßige Abnahme anzunehmen.
Insgesamt ergibt sich die Einstufung in die

RoteListe-Kategorie „Vom
Aussterben bedroht“.

Wegen der Isolation der auf kleine Teilareale zurückgedrängten Vorkommen und
ihrer unsicheren Zukunft kann im Sinne des Vorsorgeprinzips noch nicht von
stabilen Teilbeständen ausgegangen werden
.

Der Erhalt der isolierten Würfelnatter-Populationen ist direkt an dauerhafte
Naturschutzmaßnahmen gebunden, die regelmäßig durchgeführt und an die
Bedürfnisse der Art angepasst werden müssen.

Auf diese
besondere Abhängigkeit wird durch das Zusatzmerkmal „Na“ hingewiesen. Änderungen
gegenüber RL 2009 Gegenüber der Roten Liste von 2009 ergibt sich eine Änderung
der Einstufung der aktuellen Bestandssituation (von der Kriterienklasse „extrem
selten“ zu „sehr selten“) sowie eine Präzisierung des kurzfristigen
Bestandstrends (von der Kriterienklasse „Abnahme mäßig oder im Ausmaß unbekannt“
zu „mäßige Abnahme“), die jeweils auf Kenntniszuwachs beruhen.


Die Rote-Liste-Kategorie bleibt unverändert
.

Verantwortlichkeit

Die deutschen Vorkommen liegen weit außerhalb des geschlossenen
Verbreitungsgebietes, dessen nördliche Grenze durch Tschechien und Österreich
verläuft (Gruschwitz et al. 1999).

Die Bestände an Lahn,
Mosel und Nahe stellen hochgradig isolierte Reliktpopulationen dar
.
Daher ist Deutschland für diese isolierten Vorposten in Rheinland-Pfalz in
besonderem Maße verantwortlich.

Das
wiederangesiedelte sächsische Vorkommen in Meißen liegt dagegen nur 80 km von
den tschechischen Beständen an der Elbe entfernt. Gefährdungsursachen Die
Hauptursachen der historischen Bestandsrückgänge und auch der aktuellen
Gefährdung liegen in den vielfältigen Eingriffen in die Habitate der
Würfelnatter. Besonders entscheidend sind dabei die folgenden Faktoren:


40 NaBiV | 170 (3) | 2020 | 64 S. | BfN Rote Liste der Reptilien

• Der Bau, die zunehmende Nutzung und die Unterhaltung von Verkehrswegen
(Straßen, Radwegen, Bahnlinien) in unmittelbarer Ufernähe können zum Erlöschen
von Populationen führen, sowohl durch den Straßentod als auch durch
Lebensraumverlust und -zerschneidung; so bringen z. B. Instandhaltungsmaßnahmen
im Gleisbett der Eisenbahn oftmals die Tötung von Individuen und den Verlust von
Winterquartieren mit sich;


Ausbau- und
Unterhaltungsmaßnahmen der Fließgewässer wie z. B. Neu- oder Umbau von Wehren
und Schleusen, Uferverbau, Vertiefung der Fahrrinne und das Verfugen von
Stützmauern bringen oftmals Verluste von Winterquartieren und Flachwasserzonen
mit sich; • die durch den Ausbau der Fließgewässer weitgehend fehlende
Morphodynamik begünstigt die Entwicklung flächiger, hochwüchsiger und stark
schattender Staudenfluren (inkl. Neophyten) und einer verstärkten
Gehölzsukzession entlang der Ufer; • die zunehmende Freizeitnutzung der
Fließgewässer und ihrer Ufer (z. B. Wassersport, Camping, Angeln, uferparallele
Radwege) stellt eine direkte Gefährdung der Würfelnatter und ihrer Lebensräume
dar
.

 Schutzmaßnahmen
Schutzmaßnahmen sollten sich auf den Erhalt, die Förderung und die Vernetzung
bestehender Lebensräume konzentrieren:
• Erhalt und langfristige Sicherung naturnaher Bereiche in den besiedelten
Flussabschnitten;
• Renaturierung von angrenzenden Fließgewässern und Wiederzulassen von
Fließgewässerdynamik;
• stärkere Berücksichtigung von Reptilien bei Unterhaltungs- und
Sanierungsarbeiten der Schienen und Wasserwege; • Förderung der Vernetzung der
bestehenden Bestände durch Schaffung und Erhalt von Trittstein Lebensräumen, wie
z. B. naturnahen Uferbereichen. Abb. 30: Lebensraum der Würfelnatter im Nahetal.

 

 EuGH, Urteil vom 04.03.2021, C 473-/19 und C 474/19, Skyyda Skogen

Jeder Planung muss ein artenschutzrechtlicher Fachbeitrag zugrunde gelegt werden, der Grundlage der Prüfungen
der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände des § 44 Abs. 5 VS-RL bei der Prüfung häufig ein Durcheinander, das kaum aufzulösen ist und häufig Anlass
zu gerichtlichen Überprüfungen von Planungsentscheidungen gibt.

Mit der „Skydda-Skogen“-Entscheidung des EuGH vom 4.2.2021 zu artenschutzrechtlichen Verstößen bei einer forstlichen Maßnahme
wird auf der einen Seite nochmals der Individuenbezug der artenschutzrechtlichen Regelungen betont
und auf der anderen Seite einer populationgsbezogenen Betrachtung auf der Ebene der Verbote eine Absage erteilt.
Das bedeutet auch, dass die Maßgabe des § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG, wonach eine verbotstatbestandsmäßige erhebliche Störung
erst dann zu bejahen ist, wenn durch die Störung der geschützten Tiere sich der Erhaltungszustand der lokalen
Population einer Art verschlechtert, im Widerspruch steht zu Art. 12 Abs. 1 FFH-RL.

Der EuGH hatte die Frage zu klären, ob Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie dahin auszulegen ist,
dass er zum einen einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, wo- nach die in dieser Bestimmung vorgesehenen Verbote,
wenn mit einer menschlichen Tätigkeit wie einer forstwirtschaftlichen Maßnahme oder einer Erschließung
offenkundig ein anderer Zweck verfolgt wird als das Töten oder Stören von Tierarten,
nur dann Anwendung finden,
wenn ein Risiko besteht, dass sich die Maßnahme negativ auf den Erhaltunqszustand
der
betroffenen Arten auswirkt,

und zum anderen der Schutz dieser Bestimmung für die Arten nicht mehr gilt,
die einen günstigen Erhaltungszustand erreicht haben (Rn. 49).

Beide Aspekte der Fragestellung haben für die Praxis herausragende Bedeutung.
Denn § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG verneint das Verbot, wenn sich der Erhaltungszustand der lokalen Population nicht verschlechtert.
Ist diese Regelung nach den nun folgen- den Ausführungen des EuGH mit Art. 12 FFH-RL vereinbar?
Reicht die Auswahl von „planungsrelevanten“ Arten, also den Arten, die in einem nicht mehr günstigen Erhaltungszustand sind?

Der EuGH betont nahezu gebetsmühlenartig in jeder den Artenschutzrecht betreffenden Entscheidung, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie die notwendigen Maßnahmen zu treffen haben, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen, das jedes absichtliche Fangen oder Töten von Exemplaren dieser Arten, ihre absichtliche Störung und jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme ihrer Eier verbietet (Rn 50).
Weiterhin weist der EuGH auf seine Auffassung hin, dass jede Handlung, die eine Beeinträchtigung, Störung oder das Töten verursacht, selbst, wenn diese nur in Kauf genommen wird, die Verbotstatbestände erfüllen kann.
Eine Absicht im Sinne des deutschen Strafrechts ist nicht erforderlich (Rn 51, 52, 53).

Der EuGH betont sodann den Individuenbezug. Die Notwendigkeit einer Prüfung der Situation auf der Ebene der Individuen
der betroffenen Art ergibt sich schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, die die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestimmte Handlungen,
die „Exemplare“ oder „Eier“ von Tierarten beein- trächtigen, zu verbieten. Es geht also in Art. 12 Abs. 1 Buchstabe a (Tötungsverbot)
und
c (Beschädigungs-/Zerstörungsverbot von Lebensstätten) nicht um die Maßgeblichkeit des Erhaltungszustands einer Tierart (Rn 54).
Festzustellen sei, dass sich die Definition des Begriffs „Erhaltungszustand einer Art“ in Art. 1 Buchst. i dieser Richtlinie ausdrücklich auf
„die Größe der Populationen [einer Art]“ bezieht und nicht auf die besondere Situation eines Individuums oder
eines Exemplars dieser Art, so dass dieser Erhaltungszustand insbesondere im Hinblick auf Populationen der betroffenen Arten
bestimmt oder beurteilt wird (Rn 55).

Interessant ist dann die Aussage des EuGH, dass auch beim Störungsverbot
Art. 12 Abs. 1 Buchst. b FFH-RL 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG) der Populationsbezug falsch ist.
Der EuGH begründet dies da- mit, dass eine Missachtung des Verbots in besonderer Weise geeignet sei,
sich auf den Erhaltungszu- stand der betroffenen Art negativ auszuwirken, es indessen schon ihrem Wortlaut nach nicht ausschließt,
dass Maßnahmen, die kein solches Risiko bergen, im Einzelfall davon erfasst sein können (Rn 56).
Daraus folge, dass die Durchführung der in Art. 12

Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie vorgesehenen Schutzregelung nicht davon abhängt,
ob eine bestimmte Maßnahme mit dem Risiko verbunden ist, dass sie sich negativ auf den Erhaltungszustand
der betroffenen Tierart auswirkt (Rn 57).

Wichtig ist dann die Einordnung des Populationsbezugs durch den EuGH:
„Was sodann den Kontext anbelangt, in dem diese Bestimmung steht, ist festzustellen,
dass die Prüfung der Auswirkung einer Maßnahme auf den Erhaltungszustand der betroffenen Tierart
hingegen im Rahmen von nach Art. 16 der Habitatrichtlinie erlassenen Ausnahmen maßgeblich ist.
Im Rahmen der Prüfung dieser Ausnahmen wird nämlich eine Beurteilung sowohl der Auswirkung der in Rede
stehenden Maßnahme auf den Erhaltungszustand der Populationen der betroffenen Arten als auch der Notwendigkeit
dieser Maßnahme und der Alternativen, die es ermöglichen, das für die beantragte Ausnahme angeführte Ziel zu erreichen,
vorgenommen. Würde die Anwendbarkeit der Verbote nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie
vom Risiko einer negativen Auswirkung der in Rede stehenden Maßnahme auf den Erhaltungszustand
der betroffenen Art abhängig gemacht, so könnte dies zu einer Umgehung der nach Art. 16 dieser Richtlinie
vorgesehenen Prüfung führen und würde somit bewirken, diesem Artikel, den Ausnahmevorschriften
und den sich daraus ergebenden restriktiven Voraussetzungen ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen.
Eine solche Auslegung kann nicht als mit den in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätzen
der Vorsorge und Vorbeugung sowie dem erhöhten Schutzniveau nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c
dieser Richtlinie für Exemplare von Tierarten und Eier vereinbar angesehen werden.
Daher schließen es sowohl der Wortlaut als auch der Kontext dieser Bestimmung aus,
die Anwendbarkeit der in dieser Bestimmung genannten Verbote auf eine Maßnahme wie eine forstwirtschaftliche Maßnahme
oder eine Erschließung vom Risiko einer negativen Auswirkung auf den Erhaltungszustand der betroffenen Tierart abhängig zu machen, wobei diese Auslegung auch durch die Ziele der Habitatrichtlinie bestätigt wird. Insoweit ergibt sich aus dem dritten Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass es deren Hauptziel ist, die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu fördern, wobei jedoch die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und regionalen Anforderungen berücksichtigt werden sollen, womit sie einen Beitrag zu dem allgemeinen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung leistet.“ (Rn 58-62).

In der Literatur wird aus dieser Rechtsprechung zu Recht geschlossen,
dass § 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG mit Art. 12 Abs. 1 Buchstabe b) FFH-RL nicht in Einklang steht.
Die Regelung ist weder mit dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck noch mit der Regelungssystematik vereinbar.
Es wird darauf hinge- wiesen, dass der Störungstatbestand bei anderern der Literatur wird aus dieser Rechtsprechung
zu Recht geschlossen, dass
§ 44 Abs. 1 Nr. 2 BNatSchG mit Art. 12 Abs. 1 Buchstabe b) FFH-RL nicht in Einklang steht.
Die Regelung ist weder mit dem Wortlaut, dem Sinn und Zweck noch mit der Regelungssystematik vereinbar.
Es wird darauf hinge- wiesen, dass der Störungstatbestand bei anderer

Auslegung praktisch leerlaufen würde, da kaum Handlungen vorstellbar seien, die eine gesamte Tierart im Sinne der Gesamtheit
der ihr zugehörenden Individuen stören könnte (Gellermann/Schumacher, NuR 2021, 182 (184)).

Die Linie des EuGH ist klar:
Individuenbezug auf der Ebene der Prüfung der Verbotstatbestände, Populationsbezug im Rahmen der Prüfung der Ausnahme.
Dies erscheint im Lichte eines strengen europäischen Artenschutzrechts sinnvoll und notwendig,
da die Auswirkungen einer Maßnahme auf Individuen einer streng geschützten Art nur dann zu rechtfertigen sind,
wenn die Ausnahmetatbestände bejaht werden können, wozu nicht zuletzt eine Alternativenprüfung
(„keine anderweitige zufriedenstellende Lösung“) gehört (Art. 16 Abs. 1 FFH-RL).